Martin Amanshauser

Schwarzes Brüssel

Matonge wird Klein-Kongo genannt, oder das schwarze Herz Brüssels – und ist ein Teil von Ixelles, kurz XL.

Es sind keine Fünfzehnjährigen, die an der Straßenecke Fußball spielen. Es sind Männer in ihren Zwanzigern. Die meisten von ihnen kommen aus dem Kongo, Belgiens einziger Ex-Kolonie. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters spielen sie nicht gerade die Vernünftigen. Sie sind Fußballkünstler, und wenn den Künstlern ein Lapsus passiert, wenn der Ball auf die Straße hüpft, muss schon einmal der ganze Verkehr stoppen – und zwar so lange, wie sie es für nötig befinden. Die rechtschaffenen, weißen, eiligen Belgier wollen aber ebenfalls durch. Sie stehen mit ihren Autos in der Schlange und hupen. Wer genau nachsieht, erkennt ein paar rote Köpfe hinter den Lenkrädern. Aber immer mit der Ruhe! Schließlich befinden wir uns in Matonge, manche sprechen es Matongé aus, dem „schwarzen Herzen von Brüssel“.

Afrika lächelt. Matongé, so heißt ein Ausgehviertel in Kinshasa. Mit Stolz wurde der schicke Name nach Brüssel exportiert, in das Dreieck zwischen den Straßen Chaussée d’Ixelles, Chaussée de Wavre und Vredestraat/Rue de la Paix. Hier dominieren Haarsalons und afrikanische Lokale mit Namen wie Waka-Waka oder Mandela. Die Puppe in der Puppe, sozusagen das schwarze Herz des schwarzen Herzen, befindet sich schließlich in einem etwas stickigen Einkaufszentrum mit unhübschem Boden – offiziell Galerie d´Ixelles – an dessen Eingang ein Riesenschild auf Französisch und Flämisch auffordert „Lächeln Sie, Sie sind in Matonge!“

Die beiden Seiten des Durchgangs heißen bei den Leuten Inzia und Kanda-Kanda, ebenfalls nach zwei Straßen in Kinshasa. Drin gibt es eine Menge zu lächeln, die Afrohits der Saison dröhnen aus den Lautsprechern, weiße Besucher sind Zaungäste. Nicht viel anders ist das im kurzen Fußgängerzonenstück der Lang-Leven Straat/Rue Longue Vie: eine genuin freundliche afrikanische Kleinstadt, wo jeder jeden kennt, die Kinder herumteufeln und die Bettler habituell ihren Euro zugesteckt kriegen.

Belgien lebt. Würde es Brüssel (administrativ gesehen weder flämisch noch wallonisch) nicht geben, wäre der Nationalstaat Belgien längst zerbrochen. Man kann das diskutieren, aber Brüssel ist nun einmal da, mit seinem Durcheinander, seiner Buntheit und Vielfalt. Den Leuten von Matonge ist es schnurzegal, welche Volksgruppe in welchem Gremium nun gerade die Oberhand hat, oder ob sie in einem Land leben, das ein ganzes Jahr lang unfähig ist, eine Regierung zu bilden. Sie sind die neuen Belgier, und sie sind stolz darauf.

Nicht alle von ihnen gehören der Unterschicht an: Seit den Sechziger Jahren zog ein Gutteil der kongolesischen Elite von nach Brüssel, ließ sich in den Villen von Ixelles nieder, schickte ihre Kinder in Privatschulen. Einige meiden das Viertel ihrer Wurzeln heute, andere kommen immer wieder zurück. „Es ist einfach ein romantisches Quartier“, sagt Didier Kibiswa, der längst für die EU arbeitet, „im Prinzip hast du alles, was du zum Leben brauchst, wie ein Village in Manhattan.“ Kibiswa besucht seine Mutter wöchentlich. „Die Menschen sind überall gleich, nur die Wertvorstellungen und Regeln ändern sich. Zwei Kilometer weiter im Nordosten von hier gilt als Idiot, wer keinen Anzug trägt, während man in Matonge einer ist, wenn man nicht kicken kann.“

Bio und Bobo. Zwischen der flämischen und wallonischen Seite ist Brüssel ein Stadtstaat für sich, mit einer völlig unübersichtlichen Administration. Keine der beiden Seiten will ihn aber auslassen. Heute kann man die Metropole als vorwiegend französischsprachig bezeichnen, das ist den flämischen Belgiern, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in der Mehrzahl waren, ein Dorn im Auge. Brüssel wird jedoch niemals mehr die Nationalstadt eines Nationalstaats sein können: Auch konservative Schätzungen sprechen bereits von über 100.000 Nicht-Belgier, die in einem Gebilde leben, in dem keiner mehr weiß, wer wofür zuständig ist. Muss man in Paris die Banlieues außerhalb der alten Stadtgrenzen suchen, so befinden sie sich in Brüssel längst innerhalb. Nur dass in Brüssel kein Reifen brennt, sondern ein Laden eröffnet. Genau das macht ja den Reiz aus! Politkünstler Patrick Marchal schlug jüngst vor, Brüssel zu erweitern: „Wir schenken Belgien einfach Europa und nennen es Brüsssel!“

Matonge, ein Puzzlestein in einem wunderbaren Chaos – das trotzdem fast die Hälfte der belgischen Jobs bereitstellt – ist kein heruntergekommenes Viertel. Die Kleingeschäftsleute mit ihren Importprodukten machen Umsatz. Neben Afrika florieren Läden mit Bio-Lebensmitteln für die Kunstcrowd, die alte Fabriken und Wohnraum aus der Jahrhundertwende gentrifiziert. Nehmen wir die Vredestraat, die auf zweihundert Metern von kongolesischen Friseur- und Beauty-Salons bis zum Bobo-Platz vor der Kirche St. Boniface reicht, auf dem gemütliche Esplanaden wie der des Belgo Belge vorherrschen, und auf den sich kaum ein schwarzer Passant verirrt. Dazwischen: das hypermoderne Orients Resto mit Pappkarton-Take-Away, die afrikanische Bar N´Go und die afrikanische Taverne L´Árchipel, das Kuumba Café (ein vlaams-afrikaans-Haus), ein vietnamesisch-thailändisches Restaurant, das Inzia (saveur d´afrique, ein High-End-Afrikaner) und das Antiquariat „Librarie Hankard“ – das ist jetzt nur eine Auswahl.

„Oft hat es geheißen, Matonge wäre tot“, sagt Didier Kibiswa, „stimmt nicht, es ändert sich nur.“ Man sprach über die Verdrängung der afrikanischen Einwanderer durch neue Leute aus dem indischen oder ostasiatischen Bereich, über ein ein Schicksal wie Little Italy in Manhattan, doch die Flagship-Friseure hielten durch.

Kolonie und Ignoranz. Die sogenannten Kongogräuel sind ein historischer Begriff – die belgische Kolonialgeschichte ist die wohl schmutzigste Europas. Die Kautschuk- und Elfenbeinkolonie, auch genannt Kongo-Freistaat (1885-1908) tat sich durch ihr perfides Zwangsarbeitssystem hervor. „Aufständischen oder denen, die zu wenig Kautschuk sammelten, hackten sie die Hände ab“, erläutert Didier Kibiswa, „die Methode ist eine belgische Spezialität wie Moules Frites.“ Durch das neue Medium Fotografie verbreiteten sich die Bilder in Europa und Amerika und führten zu einem Aufschrei von Menschenrechtlern.

Das belgische Afrikaterrain (75 Mal so groß wie der Staat) war keine Staatskolonie, sondern befand sich im Privatbesitz von König Leopold II. Sein System war direkt für 10 Millionen Tote verantwortlich. Zeitgenossen wie Mark Twain („König Leopolds Selbstgespräch“, politische Satire, 1905) und Joseph Conrad prangerten die Kolonialverbrechen an, Belgien selbst unternahm wenig. „Leopold verkaufte seine Kolonie an den Staat“, so Didier Kibiswa, „nun war es Belgisch-Kongo, aber die Zwangsarbeit blieb.“ Bis heute hat Belgien seine üble Kolonialgeschichte nicht aufgearbeitet: „Das Reiterstandbild von König Leopold auf dem Troonplein steht ja noch immer!“ Andererseits steht ja auch eine Tamerlan-Statue in Samarkand, oder, etwas harmloser, Lueger am Wiener Ring.

Im 20. Jahrhundert war Kongo die belgische Rohstoffmine. Auch den Weg in die Unabhängigkeit (1959) verpfuschte der Kolonialstaat, ließ Ministerpräsident Lumumba mit CIA-Hilfe töten und seine Leiche in Batteriesäure auflösen – damit das Land von der Clique des US-freundlichen Diktator Mobutu ausgeplündert werden konnte. 41 Jahre nach dem Mord wurde eine Kommission einberufen. „König Baudoin war unter den Mitwissern, und bis heute kämpft Lumumbas Sohn um die Verurteilung der Mörder“, erklärt Didier Kibiswa, „viele Leute in Matonge kennen diesen unglaublicher Gesetzesbruch gar nicht.“ Der einzige Spitzenpolitiker aus der Community ist Bertin Mampaka, geboren 1957 in Kinshasa, Ex-Vizebürgermeister, heute Abgeordneter des Brüsseler Parlaments.

Ixelles ist XL. Matonge ist nicht für Demonstrationen bekannt, hier wird auf das gute Leben geachtet. Wobei die Sperrstunde um 2 Uhr den Afrikanern nicht gerade entgegenkommt. „Zu dieser Uhrzeit beginnt bei uns die Nacht“, erläutert Didier Kibiswa, „aber keine Furcht, Kongolesen finden immer einen Ort, um zu feiern!“ Natürlich mag der auch in den Umgegenden liegen, denn Matonge ist Teil von Ixelles, oder XL, wie Belgier selten verabsäumen, dazuzusagen oder dazuzuschreiben. Hier wohnte einst Baudelaire, Audrey Hepburn kam auf die Welt. Was heutige berühmte Ixellois betrifft: Wer Glück hat, kann Amélie Nothomb in einem der Lokale erspähen, vielleicht bei Moules Frites im „Au Vieux Bruxelles“.

Zum Süden hin werden die Häuser jugendstilartiger, reicher. Am Place Eugène Flagey stand jahrzehntelang die belgische Rundfunkanstalt, die architektonisch wie DDR meets Art Déco aussieht. Asbestverseuchung jagte die Radioleute davon, das Gebäude wurde aufwändig restauriert und ist heute Kulturzentrum. An seinem Fuß gibt es samstags nicht nur einen Karussellpark, sondern auch Essständchen mit dem berühmten „Maatjes“, hier wie das englische „matches“ ausgesprochen. Das Ixelles der Studenten, noch südlicher, heißt Cimetière d´Ixelles: der Sammelbegriff für die Lokale rund um den Friedhofseingang. An dieser Stelle wirkt Matonge tausend Kilometer entfernt. Die EU ebenfalls. Aber es ist ja Brüssel. Alles ist ganz nahe.